Transparenz und Illusion

 

Irmgard Hummitzsch ist eine genaue Beobachterin visueller Phänomene, die sich vor allem in architektonischen Strukturen alter und neuer Bauwerke sowie geordneten Naturformen und seriellen Formen kultivierter Landschaft (z. B. Weingärten) wiederfinden. Dabei sind es oftmals Details wie Treppen, Fenster, Baugerüste, Lichtschachte oder ausgefallene Elemente progressiver Bauten, die sie zu ihren Arbeiten inspirieren. Licht und Schatten, Transparenz und Verdichtung, Weichheit und Schärfe werden dabei in eine lebendige Beziehung gesetzt, aus der eine vibrierende Vielschichtigkeit entsteht. Die Umsetzung im künstlerischen Prozess verläuft in mehreren Schritten. Ausgehend von der Beobachtung der Phänomene, ihren abstrakten ästhetischen Gehalt bereits erfassend, greift Hummitzsch zur Kamera. Bereits beim Fotografieren wird der gestalterische Prozess in Gang gebracht, in dem sie etwa eine rasche Bewegung mit der Linse vollzieht, wodurch ein hoher Abstraktionsgrad in Form von Verwischungen, Schattierungen oder Lichtspuren zustande kommt.

 

Aus dem unermesslichen Fundus an Fotos, die über viele Jahre gesammelt werden und speziell bei Auslandsreisen und den dort vorgefundenen Bauten und landschaftlichen Besonderheiten eine fruchtbare Ergänzung finden, erstellt die Künstlerin Collagen. Dabei werden die Fotos auf hauchdünne Folien gedruckt, von ihr anschließend in Schablonen geschnitten und auf eine gebürstete Alu-Dibond Platte (meist im quadratischen Format) aufgeklebt. In früheren Jahren ihres Schaffens bleibt die Platte dabei noch als nackter Untergrund in Teilen sichtbar; heute wird sie zumeist komplett mit einer zarten Schicht einer Fotofolie beklebt, die dann als Referenzpunkt für die weitere Gestaltung fungiert. Sind noch vor einigen Jahren die Schablonen farblich und strukturell dichter und die Platten von geometrischen Übermalungen in Acrylfarbe geprägt, so findet die Künstlerin heute zu immer transparenteren, lichteren und teilweise musterhaften Strukturen – wobei die Übermalungen gewichen sind.

Die Zurücknahme der Farbigkeit mit einer Reduktion auf zarte Grau-, Blau-, Grün- und Brauntöne verleiht den Arbeiten den Eindruck von Durchlässigkeit und Leichtigkeit. Es entsteht ein mehrfach gebrochener illusionistischer Raum, der sowohl in die Tiefe wie auch nach vorne, unten und oben führt. 

 

Mit dem gleichen hohen Präzisionsgrad, mit dem die Folien zugeschnitten und zu- und übereinander geklebt werden, vollzieht die Künstlerin am Ende des Prozesses des Collagierens einen schöpferischen Akt: In bedachter Kommunikation mit den bereits entstandenen Strukturen, sie teilweise verstärkend und sie teilweise brechend, werden schwarze oder weiße Linien durch das Bild gezogen. Die Linien sind ein wesentliches gestalterisches Element, sie beanspruchen keine Vorherrschaft und sind trotzdem als Residuum einer sonst ausgesparten, persönlichen Handschrift zu lesen. Der Betrachter wird so auf sanfte Weise gefordert, sich selbst und seinen eigenen Standpunkt in der Komplexität der Arbeiten zu finden. Mit Hilfe eines mehrfachen Perspektivenwechsels, einem Eintauchen in Mikroräume und dem gleichzeitigen Fließenlassen des Blicks in sich immer neu auftuende illusionistische Spiegelungen erfährt der Betrachter eine Loslösung und wohltuende Distanz von der Alltagswelt.

 

Im Laufe ihrer Entwicklung entdeckt Irmgard Hummitzsch neue Phänomene in der Außenwelt, die sie auf ihre Weise verarbeitet. So sind in der Ausstellung „Kambium“ (September/Oktober 2019) im Künstlerhaus Klagenfurt erstmals Werke von ihr zu sehen, in denen sie Fotos von organisch gewachsenen Naturerscheinungen, in diesem Fall Wachstumsringe eines Baumstammes, mit geometrisch-architektonischen Formen kombiniert. Auch hier erfährt die feine Struktur des Holzes durch die Durchlässigkeit der Folie und den stark vergrößerten Bildausschnitt einen hohen Abstraktionsgrad. Weit entfernt von wildwachsenden biomorphen Gebilden, zeigen die Arbeiten hohen malerischen Gehalt. Wie bei all ihren Arbeiten finden wir eine Ausgewogenheit der Komposition, wobei die Neugier der Künstlerin beim Einfangen eines Motivs und das bewegte Interesse am Erforschen neuer optischer Möglichkeiten vor einem rein ästhetischen Bildaufbau Vorrang hat. Dennoch zeigen die Werke eine außergewöhnliche Ästhetik, ein gelungenes Wechselpiel aus Reduktion und sinnlicher, von Akzenten geprägter Fülle  in all ihrer Feinheit und Nuancenvielfalt. Da durch die Transparenz der Folie die Dibond Platte mit ihrem Grauwert durchscheint und so das Erscheinungsbild der Arbeiten prägt, kommt noch ein anderes Phänomen zum Tragen: die Wirkung des Lichts. Als übergeordnete visuelle Ebene wird das Schimmern von Licht auf der Platte, gepaart mit Spiegelungen aus dem Umraum (Fenster, Türen, elektrische Lichtquellen) zu einem autonomen, sich ständig verändernden Merkmal, das im Wechselspiel mit der Komposition ein Gesamtkunstwerk entstehen lässt.

 

Ihre Vorliebe für geometrische Formen und Strukturen fußt bei Irmgard Hummitzsch auf einem Studium der Mathematik, wobei die Liebe zur kreativen künstlerischen Tätigkeit sie aber ihr Leben lang begleitet. Seit über dreißig Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit bildnerischer Gestaltung, wobei ihr Weg über die Aquarellmalerei zuerst zur Acrylmalerei führt, bis sie schießlich zu ihrer heutigen Ausdrucksform findet und diese laufend weiterentwickelt.Als Mitglied des Kärntner Kunstvereins und der BV Kärnten kann sie in den letzten Jahren auf wichtige Erfolge zurückblicken: Beim „5. INTERNATIONAL FINE ARTS FESTIVAL KRANJ“ zum Thema „a digital image & a classical picture“ im Jahr 2016 erlangt sie mit zwei Arbeiten den ersten Preis. Bei der„ARTEDITION COMPLIMENT“ (Innsbruck und Berlin) wird sie in der Kategorie Fotografie als Finalistin ausgezeichnet. Zahlreiche Gruppen- und Einzelausstellungen begleiten seit rund fünfzehn Jahren ihr Schaffen, unter anderen die Einzelausstellung „LINIE – EBENE – RAUM“ im Künstlerhaus Klagenfurt (2014). Mit der Ausstellung „TRANSPARENZ“ (2021) in der BV Galerie Klagenfurt setzt sie einen weiteren Baustein in ihrem Schaffen, das durch seine innovative Kraft und Lebendigkeit in eine spannende und künstlerisch fruchtbare Zukunft blicken lässt.

 

Sonja Traar